WiiWare-Review von Tim Herrmann (mail) | 26.10.2010
SEGA und sein Sonic-Franchise – eine Geschichte voller Tränen und Erfolge, Niederschläge und Wiederauferstehungen, Rettungsversuche und Resignation. Stoff genug für eine Daily Soap. Viele Fans können mit dem Franchise schon lange nichts mehr anfangen und auch die regelmäßige Wiederholung von vollmundigen Ankündigungen und letztendlicher spielerischer Enttäuschung konnten daran nichts ändern. 2010 startet SEGA einen weiteren Anlauf, Sonic wieder zu altem Glanz zurückzuführen – mit Sonic The Hedgehog 4 geht man ganz zu den Wurzeln zurück und mit Sonic Colours verfeinert man das schon oft gescheiterte 3D-Konzept. Auf den nostalgischen Wiederbelebungstitel, der exklusiv als Download erscheint, wollen wir heute einen Blick in unserem WiiWare-Review werfen – wie schlägt sich Sonic The Hedgehog 4?
Ganz wie früher?
„Wenn es mit den neuen Ablegern nicht klappt, muss man sich halt wieder auf den Anfang besinnen“, so dachten die Verantwortlichen bei SEGA wohl, als sie 2009 Project Needlemouse auf die Beine stellten, das ein Jahr später als Sonic The Hedgehog 4 – Episode I für WiiWare, XBOX Live Arcade und das PlayStation Network erscheinen sollte. Tatsächlich spart man sich diesmal jegliche 3D-Spielerei und jeden genrefremden Gameplay-Ausflug, der Sonic aus seinem Stammterrain, dem High Speed Gameplay, herausreißen könnte. Man spielt das gesamte Spiel aus der Seitenansicht und steuert auch nur Sonic – es gibt keine Werwölfe, keine Ritter, keine merkwürdigen Karts, keine Tennisschläger und auch keine Stabhochsprunganlagen neben einer Tartanbahn. Es gibt nur Sonic und die zweidimensional scrollenden Zones, die jeweils in drei Akte aufgeteilt sind, an deren Ende es Sonic mit Dr. Eggman zu tun bekommt. Eine Geschichte im Hintergrund spart man sich ebenfalls.
So rast Sonic also durch einen Akt nach dem nächsten, lässt sich mit den obligatorischen Trampolinen wild durch die Lüfte katapultieren und sammelt fleißig goldene Ringe ein. Das gesamte Grundgameplay ist dabei extrem simpel gehalten und funktioniert (bis auf wenige Ausnahmen) einzig und allein mit dem Steuerkreuz und dem 2-Knopf der quer gehaltenen Wii-Fernbedienung. Man merkt dem Spiel an jedem Pixel an, dass sich SEGA krampfhaft an den Klassikern orientiert hat und das Gameplay von damals so gut wie möglich zu kopieren versucht – besonders in den ersten paar Akten der Splash Hill Zone wird dies deutlich. Teilweise könnte man Sonic The Hedgehog 4 am Anfang gar für ein Remake mit Green Hill Zone halten. Und auch bei der Musik setzt SEGA natürlich voll auf den Retro-Faktor, auch wenn die Stücke nicht immer perfekt auf ihre Levels passen.
In späteren Stages, die nicht mehr der Green Hill Zone nachempfunden sind, wird das Spiel eigenständiger, allerdings merkt man hier dann auch, dass die Entwickler das Terrain verlassen, auf dem sie sich so sicher gefühlt haben.
Rasen und Schlendern
Sonic-Spiele müssen unheimlich schwer zu entwickeln sein. Auf der einen Seite wollen sich die Entwickler selbst treu bleiben und atemberaubende Geschwindigkeit im Gameplay mit rasanten Richtungswechseln und Loopings ohne Ende bieten, auf der anderen Seite führt hohe Geschwindigkeit aber auch zu exponentiell knackigerem Schwierigkeitsgrad, weil dem Spieler jegliche Reaktionszeit genommen wird. Lässt man den Spieler also wie auf Schienen einfach laufen und laufen und dann ab und zu als Pseudointeraktion einen Knopf drücken? Oder nimmt man ein wenig Tempo heraus und lässt ihn aktiv knifflige Passagen meistern? So oder so musste man konzeptbedingte Kompromisse eingehen – und so gibt es in Sonic The Hedgehog 4 sowohl Passagen, in denen man sich aufgrund der rasanten Geschwindigkeit und der automatischen Loopings und Flugeinlagen mehr als Zuschauer fühlt, als auch Abschnitte, in denen sich der Spieler ganz allein um Sonic kümmern muss.
In diesen Abschnitten nehmen die Entwickler das Tempo aus dem Spiel heraus und Sonic muss kleine Platforming-Abschnitte bewältigen oder sogar Schalterrätsel lösen. Das Problem dabei: Steuerung und Grundgameplay sind auf diese Situationen gar nicht eingestellt. Fängt Sonic aus dem Stand an, sich zu bewegen, startet er erst einmal in geradezu frech-langsamem Spaziergangtempo. Wenn man dann über drehbare Plattformen springen und vertrackte Platforming-Passagen lösen soll und dabei langsamer schleicht als Mario nach vier Pizzas und einer Portion Spaghetti, stehen einem schon die Haare zu Berge. Und wenn der Abstand der Plattformen dann auch noch schlecht oder gar nicht auf die exponentiell schnell steigende Geschwindigkeit nach ein paar Schritten oder Sprüngen ausgerichtet ist und man praktisch automatisch übers Ziel hinausschießt, sobald man in Fahrt kommt, fühlt man schnell den Frust durch den Körper schießen.
Kurzum: Diese etwas langsameren Passagen gab es auch schon in den Vorgängern, weswegen es auch jetzt nicht allzu viel daran zu meckern gibt. Allerdings hätte Sonic The Hedgehog 4 an der einen oder anderen Stelle entweder eine bessere Steuerung in langsamen Geschwindigkeiten oder ein optimiertes Leveldesign benötigt, das sich nach verändernder Geschwindigkeit richtet und ein wenig gnädiger mit dem Spieler ist, der sich gar nicht mal unbedingt rasende Geschwindigkeiten, aber wenigstens flüssiges Gameplay wünscht.
Überladen
Beim Level-Design haben es die Entwickler sehr gut gemeint und sich die grafischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts mit 3D-Objekten in einem 2D-Gameplay und schönen Texturen und Modellen sehr ergiebig zunutze gemacht. Teilweise waren sie dabei sogar zu eifrig. Einige Levels sind so vollgepackt mit Details im Hinter- und Vordergrund, dass einem beim Spielen regelrecht die Augen blinken. Besonders die Levels in der Casino Zone geben den obligatorischen Warnungen vor epileptischen Anfällen, die jedem Spiel beiliegen, eine ganz neue Legitimation. Überall blinkt irgendetwas, jeder Sprung, jeder eingesammelte Ring bringt einen schrillen Ton hervor, Objekte im Hintergrund reagieren optisch und akustisch auf einen anrasenden Sonic, Karten drehen sich und flattern wild durch die Lüfte. Manchmal ist weniger eben doch mehr.
Einige halbe Neuerungen sind aber durchaus richtig am Platz: Die Zielanvisierung, die SEGA in den 3D-Teilen eingeführt hat, ist auch in Sonic The Hedgehog 4 dabei und ermöglicht es den Spielern, Trampoline, Kanonen, Gegner oder sonstige Interaktionspunkte im Sprung anzuvisieren und dann mit voller Wucht auf sie zuzurasen. Das ermöglicht schöne Luftkombinationen und gibt dem Spieler mehr Möglichkeiten, eigene Wege im schnellen Spielverlauf zu gehen.
„Eigene Wege“ ist ohnehin ein schönes Stichwort: Denn Sonic The Hedgehog 4 gleicht den Fakt, dass die Levelanzahl sich mit ca. 20 Stages in überschaubaren Grenzen hält, damit aus, dass jeder Akt auf zahlreiche verschiedene Weisen gelöst werden kann. Es gibt unterschiedliche Pfade durch die Stages, die einen zu geheimen Item-Kisten, zu schnellen Abkürzungen oder zu anspruchsvolleren Geschicklichkeitspassagen lotsen. Am Ende zählen wie immer die benötigte Zeit und die gesammelten Ringe für die Gesamtpunktzahl, aber für Fans bietet sich nach einmaligem Durchspielen noch viel Zusätzliches in den Levels.
Fazit: Sonic The Hedgehog 4 erfüllt seine wichtigste Mission erfolgreich und knüpft mit einer Gameplay-Kopie und vielen spielerischen Parallelen gezielt an die Erfolge der Klassiker an. Dabei wird das manchmal fast automatische High-Speed-Gameplay mit langsameren und kniffligen Passagen zu einem spielerischen Kompromiss ausbalanciert, bei dem man sich zwischen den wilden Rennsequenzen oft mehr Abstimmung des Level-Designs auf Sonics Geschwindigkeit und mehr Feinschliff bei der Steuerung in Platforming-Passagen wünscht. Sonic The Hedgehog 4 – Episode I ist damit ein gelungener Schritt rückwärts, bei dem man sich allerdings fragt, ob das Franchise sein Bestmögliches im 2D-Sektor nicht schon erreicht hat und langsam an die Grenze des Machbaren stößt. Episode II wird die Antwort geben, fürs Erste bleibt mit Teil Eins aber ein unterhaltsames Spiel für Zwischendurch.
Von Tim Herrmann
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