WiiWare-Review von Tim Herrmann (mail) | 22.12.2008
Es war einmal eine Spielidee und ein Entwickler, dem langweilig war: Kyle Gabler und sein Experimental Gameplay Project erschufen Tower of Goo: Eine Freeware, in der man kleine Klebebälle zu einem großen Turm zusammensetzen musste. Grundsätzlich war das nur eine Abwandlung des jahrhundertealten Bauklötzchen-Prinzips, aber trotzdem machte es süchtig. Jetzt, Jahre später, führt dieser Gedanke zu World of Goo, das für den PC und auch für WiiWare erscheint. Mittlerweile ist Gabler nicht mehr alleine, sondern hat sich auch noch Ron Carmel ins Boot geholt. Beide sind oder waren Entwickler bei ElectronicArts und haben zusammen das unabhängige Entwicklerstudio 2D Boy gegründet. Der allererste Titel, World of Goo, bescherte ihnen auch schon gleich zig Awards. Nicht nur Preise auf kleineren Randfestivals für unabhängige Entwickler wie sie selbst. Nein, auch große, glänzende plattform- und branchenübergreifende Trophäen befinden sich im Regal des nicht existenten Entwicklerbüros (eigenen Angaben nach befindet sich das 2DBoy-Büro immer im nächsten Wi-Fi-Café irgendwo in San Francisco).
Aber was ist wirklich dran an der WiiWare-Version, die seit dem 19.Dezember auch in Europa erhältlich ist? Braucht der Download-Service tatsächlich noch so ein Puzzle- und Geschicklichkeitsspiel? Unser WiiWare-Review gibt Antworten.

1.500 Punkte, 15€ also, kostet der Klebebällchenspaß und bietet dafür vier Spielkapitel mit jeweils ca. zehn Unterlevels, einen Epilog und einen Extramodus, der auf Tower of Goo basiert und möglichst hohe Türme bauen lässt. Das Extrakapitel, welches man eigentlich für den europäischen Markt als Rechtfertigung dafür entwickeln wollte, dass RTL Games das Spiel als Disc-Titel auf den Markt bringen durfte, ist zugunsten des früheren Release-Termins weggefallen. Trotzdem bietet World of Goo immer noch ordentlich Umfang, der den relativ hohen Preis rechtfertigt. Vor allem, weil sich im Spielverlauf eine sehr angenehme Schwierigkeitssteigerung einstellt. Während man die ersten Levels in gut vier Minuten locker schaffen kann, dauern spätere Puzzles wesentlich länger.
Die einzelnen Levels in World of Goo sind dabei nicht einfach wahllos verstreut und werden nicht aus irgendeinem schlichten Menü ausgewählt. Sie sind eingeordnet in eine Hintergrundgeschichte, die das Spiel mit handgemalten Zwischensequenzen und kleinen Schildern von einem anonymen, mysteriösen Schildermaler erzählt. Zunächst denkt man, dass das Ganze kompletter Schwachsinn ist, was da im Hintergrund abläuft, aber wenn man länger darüber nachdenkt, kann man fast philosophische und poetische Ansätze in den winzigen Text- und Geschichtsfragmenten vorfinden. Selbstreferenzieller Humor und Satire über technische Errungenschaften der Menschheit bringen auch noch Komik in die Geschichte, die einen völlig unerwarteten und originellen Verlauf nimmt. Die sehr kurzen Comic-Sequenzen sind bewusst abstrakt gezeichnet mit tränenden Augen und merkwürdigen Proportionen, haben aber einen unglaublich eigenen und sehenswerten Stil und die Musik im Hintergrund macht World of Goo in dieser Hinsicht zu einem echten Kunstwerk mit extremem Charme.
Das spiegelt sich auch im eigentlichen Spiel wider. Die Umgebungen sind zwar simpel und meistens einfarbig gezeichnet, haben dadurch aber auch zu keinem Zeitpunkt mit unsauberen Texturen oder irgendwelchem Flimmern zu tun, wodurch 2D Boy seinem Namen absolut gerecht wird. Die Hintergrundmusik gibt dem Ganzen dann noch einen besonderen Schliff, indem sie bedrückend den wütenden Sturm in einer Gegend mit stechend rotem Himmel unterstreicht oder mit epischen Paukenschlägen das Besteigen eines Berges symbolisiert. Es ist schwer zu beschreiben, wie sich World of Goo genau anfühlt, man muss es einfach selbst gespielt haben. Auf jeden Fall besticht der Titel noch durch weit mehr als sein einfaches Puzzle-Gameplay.

Das kommt übrigens bei alldem nie zu kurz: Es gibt verschiedene Arten von Goo-Bällen, die alle unterschiedliche Eigenschaften haben. Während die schwarzen sich simpel und einfach zu Türmen verketten, können andere ihre Verknüpfungen auch wieder lösen, verbrennen, nur eine Bindung eingehen oder auch auf Stacheln liegen, ohne zu zerplatzen, und wieder andere fungieren als Luftballons, die die Goo-Ketten anheben und über Hindernisse bugsieren. Die Steuerung kann gar nicht mehr einfacher sein, weil nur der Pointer und der A-Knopf verwendet werden. Möchte man das Goo-Gebilde um ein Element erweitern, drückt und hält man den A-Knopf, während ein freier Goo-Ball sich irgendwo tummelt, und bewegt ihn zum zu erweiternden Punkt. Dort zeigen durchsichtige Linien schon an, was möglich ist, und man kann sich entscheiden, wo man Bindungen einbauen möchte und mit welchen zwei anderen Goo-Bällen der neuen verknüpft werden soll. Letztendlich verlangt jedes Level eine andere Art von Bauwerk und es ist alles möglich – mal ist ein simpler Turm nötig, mal braucht es eine Brücke und anderswo muss man große Bälle irgendwo hinein katapultieren oder mit Gewichten die Schwerkraft benutzen.
World of Goo ist eine Mischung aus Strategie- und Geschicklichkeitsspiel, denn bei der Konstruktion der Gebilde muss sich die Physik immer im Hinterkopf befinden und der Spieler soll selbst überlegen, wo er bestimmte Goos an welche Stellen setzt, um die gewünschten Effekte zu erzielen und nicht letztendlich wegen schlechter Statik zu scheitern. Am Ende steht immer ein Rohr, in das die noch nicht verbauten oder übrigen Goos gesaugt werden. Um ein Level zu schaffen, muss eine bestimmte Anzahl an Goo-Bällen zum Einsaugen gegeben werden. Alles was zusätzlich ins Rohr geht, wird für den Tower-of-Goo-Modus zur Verfügung gestellt, wo man dann (auch in der Gruppe) möglichst hohe Türme stapeln kann.
Fazit: World of Goo ist ein einziges Universalkunstwerk und mit Abstand der beste Titel auf WiiWare bis dato. Nicht nur kann es durch seine unverwechselbare grafische Aufmachung bestechen, sondern überzeugt auch durch die meditative, opulente, gedankenversunkene oder auch mysteriöse Musik und die fast schon poetischen kleinen Textfetzen, die die Levels betiteln oder auf Schildern in kurzen Beschreibungen zu finden sind und die kreative Geschichte erzählen. Das Gameplay selbst kann kaum simpler sein, macht unter anderem deswegen aber absolut süchtig und motiviert potentiell ewig, weil es optionale Zusatzziele in den Levels gibt (ZKVs - Zwingende Kriterien für Vollständigkeit), die wirklich schwer zu lösen sind. Kein Level gleicht dem anderen, es gibt immer Abwechslung und man wird von World of Goo niemals gelangweilt. Für solche kleinen unabhängigen Entwicklungen ist WiiWare gedacht gewesen, nicht für seelenlose Puzzle-Klone und altbackene Traditionsprinzipe wie Bowling und Billard – und das Spiel zeigt, dass man mit nur einer guten Idee und viel Mühe und Kreativität auch ohne riesige Finanzmittel hervorragende Spiele entwickeln kann, die sich hinter keinem Disc-Titel zu verstecken brauchen. Und deswegen kann am Ende nur die Höchstwertung stehen.
Von Tim Herrmann
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