Review von Tim Herrmann (mail) | 03.12.2010
Es war einmal, in längst vergangenen und schon fast vergessenen Zeiten, ein amerikanisches Filmstudio, das als einer der Pioniere gezeichnete Figuren auf einer Leinwand zum Leben erweckte. Dieses Filmstudio hieß Disney und es ließ Maskottchen wie Donald Duck u.a. in bissigen Parodien den Nationalsozialismus und die schwierigen politischen Umstände kritisieren. Heute ist das im Angesicht von Hannah Montana oder High School Musical 1-3, von Camp Rock 1 & 2 oder der großen Tinkerbell-Trilogie kaum noch denkbar. Mit Ausnahme der künstlerisch weiterhin brillanten Pixar-Filme ist Disney ein Publisher wie jeder andere auch, weswegen eine Videospielankündigung aus dem letzten Jahr für besonders viel Aufmerksamkeit sorgte: Micky Maus kommt zurück, in einem Spiel, das von Entwicklerlegende Warren Spector geschaffen wird und das noch dazu auf die glorreiche Disney-Historie zurückgreifen und längst vergessene Charaktere wiederbeleben will. So viele große Namen in nur einem Spiel – was da wohl auf uns zukommt? Disney Micky Epic (bzw. Disney Epic Mickey im Originaltitel) bei uns im Test.
Wie ein Name ein Spiel beeinflusst
Warren Spector. Ein Name, den viele Spieler kennen und mit Werken wie Deus Ex verbinden. Und wenn Spieler einen bestimmten Namen mit einem neuen Spiel verbinden können, dann hat dessen Designer es geschafft. Einige Beispiele wie Shigeru Miyamoto oder Will Wright oder eben auch Warren Spector gibt es, die allein durch ihren Namen ein außergewöhnliches Spiel garantieren. Entsprechend groß war auch die Aufregung, als Disney und Spector sich im Oktober 2009 gemeinsam auf eine Bühne in London stellten und ein Spiel präsentierten, mit dem keiner gerechnet hätte, wenn es nicht schon ein paar Tage zuvor in der GameInformer enthüllt worden wäre.

Die Erwartungen an dieses Projekt namens Epic Mickey wuchsen schnell in astronomische Höhen: Spector bekundete mehrmals seine Liebe zu den alten Disney-Charakteren und erklärte, wie sehr er sich darüber freue, Micky Maus den würdigen Videospielauftritt zu verpassen, den die Figur schon immer verdient habe. Einen dunkleren Ansatz wollte Spector verfolgen, ein entartetes Disneyland mit vielen Gefahren darstellen, und dabei trotzdem das Herz und den Charme der alten Disney-Cartoons bewahren. Spectors selbst gesetzte Regeln sind in der Branche allgemein bekannt: Er entwickelt ein Spiel nur, wenn er davon überzeugt ist, dass es das Zeug zum Toptitel hat, und er entwickelt ein Spiel nur, wenn er vom Publisher alle Freiheiten bekommt. Disney stimmte dem offenbar zu und Spector ging ans Werk. Jetzt ist Epic Mickey erschienen. Und den sanften Hauch von Genie merkt man ihm auch an.
Ein kreatives Meisterwerk
Eines Tages gelangt Micky durch Zufall an einen magischen Pinsel, mit dem er versehentlich eine gemalte Welt zerstört, in der ein Zauberer (vermutlich als Symbol für Walt Disney) vergessenen Kreationen ein neues Leben schenkte. Nach einiger Zeit von seiner Missetat heimgesucht, wird Micky bald selbst von einer bösen Entartung aus Farbe und Verdünner in dieses „Wasteland“ entführt, in dem sich Geschichten und Charaktere aus dem Disney-Universum tummeln, die man schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Terror und Zerstörung sind aber das Einzige, was von dem Reich nach dem Unglück noch übrig bleibt, das Micky verursacht hat, und es ist die Aufgabe der heldenhaften Maus, alles wieder gerade zu biegen – oder zumindest selbst wieder mit heiler Haut zu entfliehen.
Dabei gelingt es den Entwicklern von der ersten Sekunde an (spätestens aber nach der Ankunft in der Mean Street, sozusagen der Hub-World, von der aus man Levels ansteuern kann), das Wasteland mit Leben und Seele zu füllen, was wohl die schwierigste Aufgabe ist. Man muss sich als Spieler nicht in der umfangreichen Disney-Geschichte auskennen, um die Geschichte zu verstehen, man muss sie nicht einmal unbedingt kennen, um versteckte Gags oder Anspielungen mitzubekommen. Spector und sein Team von Junction Point benutzen die ausgedienten Charaktere nicht (nur) als traurige Repräsentanten eines toten Landes, sondern als liebenswerte Persönlichkeiten, denen Micky auf seinem Weg begegnet. Sie verleihen der dörren Welt eine Seele, ihre Seele, und erzählen eigene kleine Geschichten, denen Micky im Spielverlauf näher nachgehen kann - wenn der Spieler ihn lässt.

Entscheidungen des Spielers sind ohnehin eines der wichtigsten Elemente in Disney Micky Epic, hier merkt man die Handschrift Warren Spectors auch der Gameplay-Komponente eindeutig an, schließlich ist Entscheidungsfreiheit eines seiner Markenzeichen. Das beginnt beim Hauptfeature des Spiels, dem Umgang mit Farbe und Verdünner. Mit Farbe kann die Maus ihre Umgebung rekonstruieren. Ausgelöschte Objekte sind plötzlich wieder physisch vorhanden, Mechanismen werden auf einmal wieder in Gang gesetzt. Auf der anderen Seite der Verdünner, der ganze Teile der Welt auslöscht und so zwar zum einen vernichtend wirkt, zum anderen manchmal aber auch notwendige Passagen eröffnet oder Hindernisse aus dem Weg räumt. Hier entscheidet der Spieler: Möchte er die Heimatwelt der vergessenen Konstruktionen wieder zu altem Glanz zurückführen, sie in ihrem miserablen Zustand belassen oder sogar weiter zerstören?
Will er den Charakteren die er trifft helfen oder will er sie im Stich lassen? Möchte er lieber Freunde unter den bemitleidenswerten, aber herzlichen Vergessenen gewinnen oder ihr Wohl gegen ein paar Extras eintauschen? All das sind Fragen, die sich im Micky-Epos permanent stellen und die sich nicht einfach nur zur Zierde ab und zu in den Spielverlauf mischen, sondern früher oder später auch maßgeblichen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Titels haben. Das betrifft sowohl die Gameplay-Aufgaben als auch die Art und Weise, wie die verschiedenen Protagonisten mit Micky interagieren. Es gibt immer nur einen Pfad, für den sich der Spieler an diesen spielerischen Weggabelungen entscheiden kann. Wer einen zweiten Durchlauf wagt, könnte ein ganz anderes Spiel erleben.
Um die vielen kleinen Geschichten und die Atmosphäre auf den Bildschirm zu bringen, bedient sich Junction Point gleich mehrerer stilistischer Mittel. Zum einen gibt es vorgerenderte Filme wie im Intro, zum anderen Zwischensequenzen in Spielgrafik. Und dann tauchen von Zeit zu Zeit auch noch Comic-Clips im Cartoon-Stil auf. Ein kleines Highlight sind auch Jump & Run Levels in 2D, die jeweils von einem klassischen Disney-Kurzfilm inspiriert sind und weniger wegen des relativ simplen Platforming-Gameplays an Reiz gewinnen, als viel mehr durch die liebevolle Umsetzung der Filmthematik. Sprachausgabe gibt es bis auf ein paar Hey- und Ho-Rufe aus der Wii-Fernbedienung und ein paar Schreie von Micky Maus im bekannt hellgrellen Ton unterdessen nicht. Die Spielgrafik kann bei alldem insgesamt überzeugen: Mit sehr guten Modellen und einem extrem kreativen und liebevollen Level-Design bringt sie den Spieler zum Staunen, auch ein paar Effekte und Details wissen zu überzeugen. Matschtexturen z.B. in Verdünnerseen tauchen aber trotzdem auf und schmälern das Gesamtbild. An einigen Modelle hätte noch ein wenig sorgfältiger gefeilt werden können.

Brillant ist dagegen vor allem der Soundtrack von Disney Micky Epic. Die Aufgabe für den Komponisten war keine leichte: Er sollte diesen gewissen Disney-Zauber einfangen, der sich durch die klassischen Werke des Filmstudios zieht. Wenn man Disney Micky Epic spielt, sollte man sich fühlen wie in einem Disney-Film - und diese Aufgabe wurde mit Perfektion gelöst. Von modernen Stücken, die man einfach nur mit „Disney“ beschreiben kann, über ganz alte Melodien, die klingen wie frisch aus dem Leierkasten und die dabei auch noch dezent kratzen wie eine alte Schallplatte. Der Sound verleiht dem Spiel eine gewaltige Hintergrundatmosphäre und trägt einen großen, wenn nicht den größten Teil dazu bei, dass man sich wirklich an alte Disney-Tage erinnert fühlt.
Kreativität trifft auf Realität
Nach all diesem Lob für die tolle kreative Ausgestaltung der Spielwelt, der Charaktere und der Gameplay-Ideen muss allerdings irgendwann auch an die spielerische Realität gedacht werden. Denn Spector und Co. sollten hier keinen Film entwickeln, keine reine Disney-Hommage, sondern vorrangig ein Videospiel. Und das ist noch einmal eine ganz andere Kiste. Micky Epic ist das erste Spiel von Spectors eigenem Entwickler Junction Point – und leider merkt man dem Endprodukt das genauso an wie die kreative Handschrift des populären Schöpfers.
Im Spielablauf wechseln sich lineare Gameplay-Passagen mit Anfangs- und Zielpunkt ab mit großen Disneyland-Spielplätzen, wo man Nebenaufgaben erfüllen und Geheimnisse entdecken oder einfach von einer Leinwand zur anderen hüpfen kann, mit denen die einzelnen Levels durch die bereits angesprochenen 2D-Hüpfpassagen verbunden sind. Und dann gibt es auch noch Zwischenlevels, in denen der Spieler auf die Bewohner des Wasteland trifft. Sie bestechen zwar durch den Charme der vielen vergessenen Charaktere, die mit einer Mischung aus Traurigkeit und Optimismus für eine ganz besondere Stimmung sorgen, auf der Gameplay-Seite aber lediglich maue Such- und Besorgungsaufgaben zu bieten haben. „Bringe mir das Item X von Charakter Y, allerdings wird der vorher den Gegenstand A von dir verlangen, den Charakter B besitzt“, wäre dabei ein passendes Beispiel.

Das Hauptproblem des Spiels besteht dabei aber nicht in einem manchmal etwas zähen Gameplay-Fluss, sondern schlicht und ergreifend im handwerklichen Feinschliff, im Groben, im Fundament. In Micky Epic ist es beileibe nicht so, dass das handwerkliche Fundament komplett fehlt – doch stabil ist es auch nicht. Das liegt hauptsächlich an der schlechten Integration der Kamera. Eine Nachjustierung über Steuerkreuz und C-Knopf ist erschreckend oft nötig. Sehr häufig verheddert sich die Kamera hinter Objekten oder blickt starr und unveränderlich auf eine Szene, in der ein gewisser Weitblick notwendig wäre. Besonders in kniffligen Platforming-Passagen wird dies zu einem ernstzunehmenden Problem: Die Sprungmechanik ist nämlich ebenfalls sehr schwammig geraten.
Wenn Mario in einem seiner 3D Jump & Runs zielgenaue Sprünge macht und jedes seiner Ziele auf den Punkt trifft, nimmt man das als selbstverständlich hin. Doch tatsächlich steht hinter einer solchen Mechanik monatelanges Feilen an Animationen, an Umsetzung der Spielerkommandos und an Sprungphysik; Feinschliff, den Micky Epic vermissen lässt. Der hektische Doppelsprung ist unverlässlich und wabbelig, oft wird das angepeilte Ziel verfehlt, manchmal hat man Glück und die Maus hängt sich noch an eine Kante. Wenn zusätzlich zu diesem unpräzisen Sprungsystem dann auch noch die Kamera schwenkt oder falsch auf die Szene blickt, verliert man schnell ein Leben, was (mit dem Fehlen von Checkpoints innerhalb der Levels kombiniert) verheerend sein kann.

Auch das Kampfsystem lässt zu wünschen übrig: Zwar darf Micky auch hier frei entscheiden, ob er seine Feinde mit Verdünner auslöscht oder mit Farbe zur hellen Seite der Macht bekehrt, doch auf Dauer ödet dieses Prinzip wegen der geringen Anzahl an Möglichkeiten an. Der Spieler kann nur Farbe sprühen oder mit einer Wirbelattacke und einem Sprung angreifen, um die Gegner kurzzeitig außer Gefecht zu setzen. Und wer mit Farbe oder Verdünner auf sein Gegenüber zielt, kann dessen Angriffen auch nicht ausweichen, was zu einigen unnötigen Treffern führt.
All diese Fehler sind nicht so gravierend, dass sie das Spiel zerstören, doch sie stehen der vollen Entfaltung der vielfältigen Gameplay-Ideen im Weg und stören oft z.B. beim Umgang mit Farbe. Wenn die Kamera falsch ausgerichtet ist, wird nicht das vom Pointer angepeilte Ziel, sondern einfach der Boden mit Farbe beschossen. Versucht man, versteckte Schatztruhen auf einem Dach zu erreichen, ist es manchmal Glücksspiel, welcher Vorsprung vom Spiel auch tatsächlich als solcher gewertet wird und welcher nur zur Dekoration da ist. Es ist Glücksspiel, welche Plattform man trifft und über welche Hindernisse man gelangen kann und welche scheinbaren Übergänge unüberwindbare Barrieren darstellen. Manchmal verfängt sich Micky auch in Objekten, die nicht klar als Hindernisse zu erkennen sind, und der Spieler muss nachjustieren. All diese Kleinigkeiten schmälern den Teil von Micky Epic, der kein Kunstwerk ist, sondern ein ganz normales 3D Jump & Run. Fazit: Disney Micky Epic ist ein Spiel mit Brillanz an jeder Häuserecke. Das Gameplay hält mit Farbgestaltung und Entscheidungsfreiheit viele wirklich gute Ideen bereit, die Spielwelt ist unheimlich lebendig gestaltet und versprüht einen Charme, eine Atmosphäre und eine Seele, die man nicht mehr in vielen Videospielen von heute findet. Die Disney-Historie wurde exzellent und konsequent in die Moderne gehievt und in eine neue Welt verpfllanzt, die den Spieler nicht mehr loslässt. Und die packende Geschichte um Micky und Oswald, den glücklichen Hasen, nimmt den Spieler zwar spät, dann aber auch richtig an die Hand. Doch eine echte Topwertung gibt es für Micky Epic trotz alledam nicht, denn es patzt ausgerechnet an der Basis: Die Sprungmechanik ist nicht bis zur nötigen Perfektion ausgefeilt, die Kamera oft ungünstig platziert, die Steuerung strotzt vor kleinen Gemeinheiten, die den Spieler zum Nachjustieren und Korrigieren seines Kurses zwingen, das Gameplay kann oft nicht so fließen, wie es sollte, und gerät ins Stocken. Ob es ein Zeit- oder ein Fähigkeitsproblem seitens der Entwickler gewesen ist, bleibt unklar. Fakt ist, dass Micky Epic mit ein wenig mehr spielerischer Perfektion ein Neunertitel hätte werden können und für die vielen kreativen Ansätze bekommt es auch den WiiX-Award – doch nun muss jeder Spieler für sich abwiegen, wie stark er sich von welchem Plus- oder Minuspunkt beeinflussen lassen möchte.
Von Tim Herrmann
|
|
| Wertung für das Spiel Disney Micky Epic | |
| |
 |  | |  |
|  | |
| 8.1 | Grafik Das kreative Level-Design verdient Auszeichnungen, technische Grobheiten, die mehr Feinschliff gebraucht hätten, gibt es aber trotzdem zu verzeichnen. | |
|  | |
| 9.6 | Sound Brillant. Der Disney-Charme wird optimal eingefangen, die vielen kleinen Klangdetails sorgen für eine perfekte Untermalung des Geschehens. | |
|  | |
| 6.9 | Steuerung Die Steuerung wird oft in ihrem Fluss von kleineren oder größeren Ungenauigkeiten bei Sprüngen gestört und ist auch ansonsten eher wabbelig als wirklich verlässlich. Das stört das Platforming-Gameplay zusammen mit der schlechten Kamera ein ums andere Mal. | |
|  | |
| 8.3 | Gameplay Einige Ideen wie das Farbenspiel und die Entscheidungsfreiheit sind wirklich brillant, andere wie die Suchaufgaben für die Wasteland-Bewohner eher Füllwerk, manche aber auch etwas misslungen z.B. das Kampfsystem. Seinen Charme zieht der Titel hauptsächlich aus der künstlerischen Seite bei Sound, Design und Lizenzeinbindung. | |
|  | |
| 8.4 | Gesamt (Kein Durchschnitt der Einzelwertungen) | |
|

|