Review von Tim Herrmann (mail) | 17.08.2009
Line Rider ist eines dieser Phänomene, die ohne das Internet gar nicht möglich gewesen wären. Alles begann als simples Konzept eines slowenischen Stundenten: Ein Schlittenfahrer fuhr mit einer Physik-Engine im Hintergrund Bleistiftlinien entlang, die der Spieler selbst zeichnete. Innerhalb kürzester Zeit avancierte dieses Konzept zum weltweiten Massenphänomen, wurde auf den Webseiten einflussreicher Medien präsentiert und war in der entsprechenden Szene plötzlich so bekannt wie ein bunter Hund. Natürlich dauerte es nicht lange, bis auch die Videospielindustrie anklopfte, um sich die Rechte an Line Rider zu sichern. InXile Entertainment war es, das die Wii- und DS-Versionen entwickelte, die jetzt von KochMedia hierzulande auf den Markt gebracht werden. Können auch sie für Hysterie sorgen und die Fans mobilisieren oder bleibt Line Rider ein PC-Internetphänomen?
Kind Vs. Line Rider
Wichtigste Neuerung im Vergleich zum kostenlosen Internetlinienreiten ist ein Story-Modus, den die Entwickler für Wii und den Nintendo DS eingebaut haben. Hier setzen sie mehr als 40 Puzzles vor und erzählen im Hintergrund eine belanglose Geschichte um einen verliebten Bosh (so heißt der Protagonist von Line Rider), der das Herz seiner Angebeteten erobern will. Die Zwischensequenzen, die zwischen dem eigentlichen Gameplay die Geschichte vorantreiben sollen, haben (leider?) einen sehr kindlichen Charme, die Spielfiguren sind mit dicken Knubbelköpfchen und riesigen glänzenden Augen ausgestattet, sprechen nicht und geben merkwürdige Quietschlaute von sich. Die Entwickler setzen also bewusst nicht auf den Strichmännchenstil, der sich für dieses Konzept geradezu aufdringlich angeboten hätte – und damit gibt InXile Entertainment Grund zur Vermutung, dass man (mindestens auch) jüngere Spieler mit Line Rider Freestyle ansprechen möchte. Auch der Warnsatz, dass „Lesekenntnisse helfen, um in den Genuss dieses Spiels zu kommen“ deutet stark darauf hin.
Doch da kommt es zum Konflikt zwischen Spiel und Spieler, denn Line Rider ist sicherlich kein Kinderspiel – im wahrsten Sinne des Wortes. Tatsächlich ist zumindest der vorgesetzte Story-Modus eine richtig harte Nuss, an der sich viele die Zähne ausbeißen werden. Das liegt aber nicht unbedingt an dem Schwierigkeitsgrad der Herausforderungen, sondern an der Umsetzung des Line-Rider-Prinzips. Ihr findet euch in jeder Stage in einer (meist winterlichen und dadurch schlittenkompatiblen) Landschaft wieder, die schon mit Teilen einer Linienstrecke für den Line Rider versehen, an einigen Stellen jedoch unterbrochen ist. In diesen Lücken sieht man grüne Kästen, in denen der Spieler dann zeichnen darf. Und zwar nur in diesen grünen Kästen, jeder Strich, der darüber hinaus geht, wird wieder gelöscht und nicht berücksichtigt.

In diesem Modus beginnt dann ein gnadenloser Kampf mit der Physik-Engine, der wegen seines Trial & Error Charakters schnell zu Frustration führt. Die Lösung der Puzzles erfordert selten große Gedankenblitze: Meistens braucht es einfach eine simple Rampe oder eine stinknormale Brücke, die zum nächsten Teil der Strecke führt. Verschiedene Linientypen (Beschleunigung, Bremsen, Trampolin, Falltür etc.) geben dem Ganzen noch ein wenig mehr Komplexität. Doch im Hintergrund läuft stets die Physik mit und die ist ziemlich sensibel: Ziel ist es immer, Bosh unbeschadet auf seinem Schlitten durch den 2D-Parcours zu leiten und auf dem Weg Münzen einzusammeln. Aber besonders fest im Sattel sitzt der Bursche dabei nicht. Zu steile Anstiege der selbst gezeichneten Rampen wirbeln ihn fix durch die Luft und lassen ihn völlig von der gewünschten Linie abkommen. Ist eure Verbindung allerdings zu gerade, fliegt er geradewegs am Ziel vorbei und in den Abgrund. Physikalisches Verständnis des Spielers ist hier kaum gefordert, viel mehr muss man seine Rampe einfach immer und immer wieder anpassen, bis es endlich klappt und man genau den gewünschten Punkt trifft. Oder man lernt die physikalische Interpretation des Spiels strikt auswendig, was aber natürlich Stunden oder Tage dauert. Das ist wenig intuitiv und schlecht gelöst, eine Art Vorschau auf die Ergebnisse hätte hier Wunder wirken können.
Spiel oder Spielzeug?
Viele Entwickler stellen sich den Schwung von PC-Flash-Spiel zu vollwertiger Einzelhandelsversion oft viel zu leicht vor. Im Falle Line Rider ist ein Faktor dabei besonders entscheidend: Das Flash-Original ist kein Spiel. Viel mehr war die Ur-Version nur ein Spielzeug, das einem verschiedene Linientypen und eine Engine zur Verfügung stellte und den Spieler dann sich selbst überließ. Sie war ein Baukasten mit mehreren Werkzeugen ohne Spielziel oder zusätzliche Motivation. Ohne kreative Spieler mit viel Einsatz und Fantasie war sie nichts – die Wii-Version hingegen will zumindest im Story-Modus ein waschechtes Spiel sein und scheitert genau an dieser Ambition, wie gerade schon angesprochen.
Line Rider als Spiel funktioniert in diesem Fall nicht ganz. Das Konzept, die Lücken mit eigenen Kreationen auszufüllen, erfordert null Kreativität, weil die Lösung schon vorgegeben ist (erreiche Ort X) und man nur noch die eine, festgelegte Variable braucht, um die Gleichung zu vervollständigen. Der kleine grüne Zeichenkasten beschränkt den Spieler noch weiter. Dazu kommt die Physik-Engine und der schon zu Beginn übermäßig verzwickte Aufbau der Challenges. Keines der Levels des zweiten Aktes, wie es im Spiel heißt (gemeint ist der zweite Fünfersatz Levels nach dem einfachen Tutorial), kann ohne unangemessen lange Versuchszeit mit maßlos vielen Fehlschlägen bewältigt werden und es stellte sich immer wieder aufs Neue das lästige Trial & Error Prinzip ein, das einen die Striche immer wieder umständlich mithilfe des Radiergummis löschen ließ, um endlich diesen einen Hügel zu erklimmen oder endlich diese eine Schlucht überwinden zu können und nicht in den Abgrund zu rasen oder vom Schlitten zu fliegen.

Neben dem schlecht funktionierenden Story-Modus mit seinem Puzzle-Konzept gibt es auch noch die Möglichkeit, eigene Puzzles zu entwerfen. Das geht zwar etwas näher an das originale, kreative Line-Rider-Konzept heran, scheitert aber auch wieder daran, dass die Idee, Line Rider zum Puzzle-Konzept zu machen, schlicht nicht funktioniert. Line Rider in Reinform ist dagegen der Freestyle-Modus: Hier stellt euch das Spiel einfach alle verfügbaren Werkzeuge, alle Linientypen und alle Möglichkeiten zur Verfügung und lässt euch ganz frei eigene Kurse entwickeln, auf denen ihr dann mit dem Schlitten entlang düsen sollt: Hier trifft InXile genau den Kerngedanken von Line Rider und wird die Fans des Franchises auch zufrieden stellen können. Auf der anderen Seite gibt es aber genau dieses Konzept halt auch umsonst bei den unabhängigen Entwicklern – ob man dafür 30€ ausgeben muss, ist fraglich, schließlich wurde die Wii-Version lediglich um einige zusätzliche Linientypen und Hintergrundgrafiken erweitert.
In jedem Fall gilt für alle Interessierten: Wer keine Geduld und Kreativität mitbringt, braucht an den Kauf gar nicht erst zu denken. Im normalen Story-Modus ist das Spiel mittelmäßig bis mies und für den kreativen Modus braucht man viel Zeit und viel Willen, um wirklich eine eigene Kreation zu entwerfen, die man dann auch speichern kann. Löblich ist das Online-Feature zum Hoch- und Herunterladen eigener oder fremder Levels, was in Zusammenarbeit mit der Line-Rider-Webseite geschieht.
Grafisch spartanisch
Auf technischer Ebene kann Line Rider Freestyle zu keiner Zeit wirklich überzeugen. Natürlich wird in der Wii-Version erst einmal mehr fürs Auge geboten als in der fast nur schwarzweißen Flash-Variante, das ist allerdings nur im Story-Modus so, wo man eine Schneelandschaft nach der anderen sieht. Die Hintergründe sind in Pastelltönen gehalten und erfüllen ihren Zweck, wären so (und sind es ja auch) aber auch ohne Abstriche auf dem Nintendo DS möglich, weswegen man grafisch keine Extrapunkte geben kann. Immerhin: Im kreativen Modus darf (oder muss?) der Spieler alles selbst gestalten und kann dazu sogar zwischen verschiedenen Zeichen- und Malebenen wechseln, was dem Ganzen noch mehr kreativen Hauch gibt.

Beim Sound von Line Rider Freestyle scheiden sich die Geister. Im Hintergrund läuft immer schnelle und jodelige Musik (wobei in einigen Stücken tatsächlich bergtypisch gejodelt wird). Die einen werden sie fürchterlich witzig und unterhaltsam finden und gute Laune von dem fröhlichen Gesinge und Gedudel bekommen, die anderen plädieren dagegen wahrscheinlich eher für fürchterlich fürchterlich – besonders, wenn sie zum hundertsten Mal eine einfache Brücke zu bauen versuchen und trotzdem wieder im Nirvana landen und aus den Lautsprecherboxen fröhliche Klänge ertönen. An Sound-Effekten gibt es nicht viel, Bosh kreischt ab und zu und es gibt Kritzelsounds beim Malen oder Radieren. Aber auch hier: Nicht der Rede wert.
Fazit: Was man zu Line Rider bei Youtube findet, ist schier unglaublich. Einige Fans müssen Monate ihres Lebens damit verbracht haben, riesige Parcours und Kurse zu entwerfen, müssen sie zig Mal umgestaltet haben, um dann die Physik richtig nutzen zu können. Kein Wunder, das für genau diese Fans auch ein großes Videospiel entwickelt wurde. Line Rider Freestyle preist sich auf der Verpackung mit den Worten „kreativ, kultig und knifflig“ an. Ist es knifflig? Ja und Nein – die Schwierigkeit rührt lediglich daher, dass das Prinzip des Puzzle-Modus nicht mit dem Line-Rider-Konzept funktioniert und selbst einfachste Lösungen in der Praxis nur sehr schwer umsetzbar sind. Ist es kultig? Für Fans definitiv – aber sie können diesen ganz speziellen Charme auch mit den bisherigen Möglichkeiten erleben. Line Rider Freestyles große Stärke ist seine Kreativität. Fans des Franchises können sich richtig austoben und mit mehreren Linienarten und Werkzeugen komplexe Parcours erstellen – für solche Spieler ist der Titel sehr empfehlenswert. Alle, die dazu keine Geduld haben, sollten aber zweimal über den Kauf nachdenken. Der Puzzle-Modus ist kaum brauchbar und funktioniert nicht und wer den Kreativteil nicht nutzen will, braucht sich diesen erweiterten Line-Rider-Baukasten nicht zuzulegen.
Von Tim Herrmann
|
|
| Wertung für das Spiel Line Rider Freestyle | |
| |
 |  | |  |
|  | |
| 5.5 | Grafik Umgebungsdesign in kalten Pastelltönen ohne jegliche Highlights. Keine Effekte, kaum Animationen, höchstens zweckmäßig. | |
|  | |
| 7.5 | Sound Sehr spezieller Sound-Track, der mit trällernden Sängern oder Jodlern und hastigem Geklingel aufwartet, das viele lieben und viele hassen werden. | |
|  | |
| 7.4 | Steuerung Der Touchscreen des Nintendo DS eignet sich zumindest beim Freihandzeichnen besser als die wackelige Wiimote, aber insgesamt klappt alles ganz gut. Nur einige überflüssige Klicks bei der Werkzeugauswahl hätte man sich der Geschwindigkeit zuliebe sparen können. | |
|  | |
| 6.5 | Gameplay Das Line-Rider-Konzept blüht nur im Freestyle-Modus auf, wo man mit neuen Linientypen ausführlich kreativ tätig werden kann und sogar in mehreren Ebenen Hintergrundgrafiken entwickeln darf. Der Rest des Spiels leidet aber darunter, dass der Entwickler versucht hat, das Line-Rider-Prinzip in ein Puzzle-Korsett zu zwingen, das schlicht nicht funktioniert und für Frust sorgt. Gut: Up- und Downloadmöglichkeiten. | |
|  | |
| 6.7 | Gesamt (Kein Durchschnitt der Einzelwertungen) | |
|

|