Review von Andreas Held (mail) | 24.12.2009
Nintendo sind momentan absolute Vorreiter, wenn es darum geht, neue Spielkonzepte zu erfinden, die Non-Gamer anlocken. Mit Spielen wie Nintendogs und Wii Fit, die eigentlich schon nicht mehr als Videospiele im eigentlichen Sinne bezeichnet werden können, werden junge Mädchen, übergewichtige Hausfrauen und allerlei andere neue Zielgruppen angesprochen. Das Genre der "grafischen Novellen", also Videospiele, die eigentlich interaktive Bücher sind, ist dabei nicht wirklich neu - in Japan existieren solche Titel schon länger, richten sich jedoch ausschließlich an einsame, männliche Spieler und bieten entsprechende, zielgruppenorientierte Inhalte. Der Entwickler CiNG, dessen erstes bekanntes Spiel Another Code vor allem wegen seines Umfangs kritisiert wurde, versuchte dann mit Hotel Dusk auf dem Nintendo DS sehr erfolgreich, das Genre des virtuellen Buches mit massentauglicheren Inhalten umzusetzen. Daran will man nun mit Another Code: R anknüpfen und Nintendo startete eine eigene Werbekampagne, in der das Spiel durch das Cover und sogar durch Fernsehwerbung als interaktiver Roman beworben wird.
Charaktere und ihre Geschichten
Damit ein interaktives Buch gut sein kann, muss natürlich in erster Linie die Story stimmen. Und da Another Code: R so sehr von seiner Handlung lebt, soll hier natürlich auch nichts verraten werden. Trotzdem können wir euch versichern, dass der Titel es versteht, seinen Spieler in den Bann zu ziehen und genug Story bietet, sodass die zahlreichen Dialoge, aus denen das über 15 Stunden lange Spiel zu über 90% besteht, weder unnötig lang wirken, noch irgendwie langweilen. Es ist dabei nicht einmal die Geschichte an sich, die diesen Effekt auslöst: Die Rahmenhandlung rückt stellenweise sogar eher in den Hintergrund und es werden lange nur kryptische Hinweise gestreut, durch die man nur erahnen kann, wie Ashleys titelgebende Erinnerungen aussehen, die sie sich im Verlaufe des Spiels ins Gedächtnis rufen will.

Was die Handlung über lange Zeit belebt sind die vielen Charaktere, die allesamt über ihre eigene, ausgefeilte Persönlichkeit und ihre eigene Lebensgeschichte verfügen, die im weiteren Verlauf aufgelöst und mit der Rahmenhandlung verwoben werden. Diese Charaktere sind es auch, die Leben in die Spielwelt bringen und den Titel letztendlich ausmachen.
Bis hierhin stellt sich natürlich die berechtigte Frage, warum man sich dann nicht gleich ein Buch kauft, welches wahrscheinlich auch billiger wäre. Aber Another Code: R nutzt die Technik des Mediums "Videospiel", um wesentlich mehr herüberzubringen, als es ein Buch jemals könnte. Zum einen ist hier die unglaubliche Detailverliebtheit zu erwähnen, mit der jede Facette der Spielwelt ausgearbeitet ist: Überall liegen unzählige Objekte rum, die zwar keinen Zweck erfüllen, aber trotzdem untersucht werden können. Außerhalb von Gebäuden geben sich malerische Landschaften die Ehre, die wie ein Aquarellgemälde aussehen und durch das schöne, naturnahe Setting eine entsprechend positive Atmosphäre erzeugen. In den Dialogen überzeugt währenddessen das fein ausgearbeitete Charakterdesign. Mimik und Gestik der Protagonisten bringen hier noch vieles herüber, was nicht direkt in den Texten vermerkt ist und eher zwischen den Zeilen steht. Einen vielleicht noch wichtigeren Teil steuert der Soundtrack bei, welcher als echtes Meisterwerk angesehen werden kann. Ein Musikstück ist schöner als das andere und alle tragen dazu bei, die Atmosphäre in der jeweiligen Situation deutlich zu verdichten. Lesefaule Spieler könnten die fehlende Sprachausgabe kritisieren, obwohl diese Beschwerde nicht sehr fundiert ist - angesichts der Massen an Text hätte Another Code: R wahrscheinlich auf mehreren DVDs ausgeliefert werden müssen, falls hier alles hätte vertont werden sollen. Von den Kosten, die es verursachen würde, einen interaktiven Roman mit einem so umfangreichen Aufgebot aus verschiedenen Charakteren kompetent zu synchronisieren, mal ganz abgesehen.

Adventure oder Non-Game?
Damit man als Spieler nicht nur vor der Konsole ist und Dialoge weiterdrückt, ist es natürlich auch weiterhin möglich und erforderlich, Ashley aktiv durch die Spielwelt zu dirigieren. In den Außenarealen befinden sich Pfeile am Bildschirmrand, über die Ashley gesteuert werden kann. Das erscheint Anfangs etwas umständlich, ist aber schon nach kurzer Zeit genauso intuitiv wie eine direkte Steuerung mit dem Steuerkreuz. In Gebäuden wird Ashley nach dem Point & Click-Prinzip durch Türen dirigiert oder gedreht, um verschiedene Ecken der Räume begutachten zu können und alle Menüfunktionen werden in übersichtlichen Interfaces bereitgestellt, wo sie immer schnell und bequem zu erreichen sind. Ebenfalls mit von der Partie sind kleine Sequenzen zur Interaktion mit bestimmten Objekten, in denen meistens die Bewegungsfeatures der Wii-Remote zum Einsatz kommen. Einige wenige davon sind etwas hakelig, in aller Regel ist die Bewegungserkennung jedoch okay. In manchen Fällen ist auch etwas Köpfchen gefragt, wobei durchschnittlich intelligente Spieler immer recht schnell auf die Lösung kommen sollten - zumindest über einen Großteil des Spiels hinweg.
Denn was passiert in aller Regel mit einem Videospiel, wenn es sich dem Ende neigt? Es wird schwieriger. Wie ist das aber bei einem interaktiven Roman? Ich habe zumindest noch kein Buch gelesen, in dem später die Seiten zusammenklebten oder gar Kryptographie verwendet wurde, damit der Leser sich Mühe geben musste, um das Ende der Story zu erfahren. Das hat CiNG aber wohl leider nicht so ganz verstanden und sich deshalb für den für ein Videospiel typischen Weg entschieden. Das heißt im Klartext, dass der Spieler im achten Kapitel plötzlich mit einer Kopfnuss nach der anderen bombardiert wird. Das wäre nicht mal schlimm, wenn die Rätsel weiterhin so ausgeklügelt wären wie im DS-Vorgänger oder Hotel Dusk, doch der Wii-Titel wirft jegliche Logik aus dem Fenster.

Dann kann ein wichtiges Objekt plötzlich erst dann mitgenommen werden, wenn man ein anderes, völlig nichtssagendes Raumelement vorher untersucht hat, was in wildes und vor allem langwieriges Herumgeklicke ausarten kann, wenn man das benötigte Item "zu früh" anklickt. Kurz danach soll eine aus dem Home-Button und den Zeichen "T I 8 1/2" bestehende Sequenz in eine Tastenkombination umgewandelt werden, welche mit der Wii-Remote eingegeben werden kann; diese Kombination kann und soll hier übrigens tatsächlich ohne weitere Hinweise gefunden werden und wenn man durch Raten darauf kommt, hat man selbst nach der Lösung keinen blassen Schimmer, was die Entwickler hier von einem wollten. An einer anderen Stelle wird der Spieler sogar gezielt in die Irre geführt und die Sequenz ohne einen logischen Grund abgebrochen, wenn man sich gerade auf dem halben Weg zur Lösung befindet - einfach, damit es noch ein bisschen schwieriger und verwirrender wird. Das ist gerade deshalb doppelt schade, weil die Story in diesen Kapiteln wirklich aufdreht und es hier richtig spannend geworden wäre, wenn einem nicht ständig frustrierende Rätsel vor den Kopf stoßen würden, die jegliche Fahrt aus der Handlung nehmen.
Fazit: Es hätte so schön sein können. Another Code: R demonstriert sehr lange, wie ein nahezu perfekter interaktiver Roman aussehen könnte. Die Kombination aus der detailverliebten Grafik, dem meisterhaften Soundtrack und den lebendigen Charakteren erzeugt eine extrem dichte Atmosphäre, die den Spieler sehr schnell in ihren Bann zieht und ihn über die zahlreichen Interaktionen mit Ashley ein Teil der Spielwelt werden lässt. Das muss man CiNG auch wirklich anrechnen und da sich die oben beschriebenen Probleme wirklich nur auf den letzten Teil des Spiels beziehen, ist es nicht spielvernichtend. Andereseits hinterlässt es schon mehr als nur einen Faden Beigeschmack, gerade, weil diese Rätsel im Vergleich zum Rest des Spiels so unpassend wirken - insbesondere die Nichtspieler, die durch die Fernsehwerbung angesprochen werden sollen, werden gegen Ende des Spiels hundertprozentig das Handtuch werfen. Was bleibt, ist ein sehr gutes Spielkonzept, welches insgesamt auch sehr gut umgesetzt, aber nicht konsequent durchgezogen wurde. Vielleicht wird der hoffentlich kommende Nachfolger ja mit Nintendos patentiertem Hilfe-System ausgestattet, das Another Code: R dringender gebraucht hätte als jedes andere Spiel.
2. Meinung von Tim Herrmann:
Ich gebe es zu: Wie bisher wahrscheinlich fast alle internationalen Tester von Another Code: R wollte ich nach ca. vier scheinbar repräsentativen Spielstunden meine Meinung zu dem Titel endgültig festsetzen und in diese kurze Stellungnahme als Resümee schreiben, dass Adventure-Fans der alten Schule sich bei Another Code: R gewarnt fühlen sollen: Denn der neue Wii-Ableger mit Ashley Robins schien tatsächlich das zu sein, als was er beworben wurde: ein interaktiver Roman für wirklich alle Spieler mit wenigen Rätseln und dafür nicht endenden (aber sehr schönen) Dialogen und einer fesselnden Geschichte. Die rar gesähten interaktiven Einstreuungen waren selten intellektuell anfordernd, konnten kaum als Rätsel bezeichnet werden, und wurden von der Protagonistin schön casualkompatibel vorgekaut. Doch dann zieht das Spiel in seinem letzten Drittel plötzlich merklich an und wartet mit einer Rätseldichte auf, die noch höher ist als die des Vorgängers – und die Kopfnüsse werden wesentlich schwieriger und komplexer: Schnell driftet das Ganze auch ins Absurde ab und die Lösungen sind kaum mehr nachzuvollziehen. Dem Spieler wird plötzlich kreatives Um-die-Ecke-Denken abverlangt und er soll teilweise mit Funktionen des Spiels umgehen, die er vorher nicht beigebracht und näher vorgestellt bekommen hat. Und das ist ein Mangel im Spieldesign, denn Cing mischt hier zwei Aspekte, die nicht zusammen passen können – auf der einen Seite Elemente eines seichten interaktiven Romans für Nichtspieler und auf der anderen Seite knallhartes Point & Click Adventure ohne Hilfen mit teilweise kaum lösbaren Rätseln in einer Spielphase, in der man nur noch des interaktiven Romans wegen dabei ist und herzlich wenig Lust auf aufhaltende Rätsel hat. Damit hat Cing einen Mittelweg zwischen „zu Casual“ und „zu Hardcore“ gewählt, der weder Fisch noch Fleisch ist, aber immerhin von beidem etwas hat und insgesamt doch einen positiven Nachgeschmack hinterlässt. Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob ihm die angesprochenen Kritikpunkte zu viel sind oder ob er sich darauf einlassen kann.
Von Andreas Held
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| Wertung für das Spiel Another Code: R - Die Suche nach der verborgenen Erinnerung | |
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| 9.3 | Grafik Malerische Landschaften, detailverliebte Innenräume und toll ausgearbeitete Charaktermodelle mit ausgefeilter Mimik und Gestik. | |
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| 9.7 | Sound Wunderschöner Soundtrack, der obendrein extrem zur Atmosphäre des Titels beiträgt. Wow. | |
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| 7.5 | Steuerung Die Steuerung von Ashley ist bequem und intuitiv, die Bewegungserkennen bei der Interaktion mit bestimmten Objekt hakelt hier und da etwas. | |
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| 7.3 | Gameplay Gutes Spielkonzept, welches hier leider noch nicht voll durchgezogen wurde und am Ende zu einem harten, leider auch unlogischen Adventure-Titel mutiert, was wiederum sehr unpassend wirkt und einen faden Beigeschmack hinterlässt. | |
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| 7.9 | Gesamt (Kein Durchschnitt der Einzelwertungen) | |
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